Demokratiereform? Bürgerräte und Planungszellen

Von Dr. Christian Marettek (13.08.2021)

Einführung

Aus wissenschaftlicher Sicht werden seit einigen Jahren diskutiert;

Beiden Ansätzen ist gemein, dass per Losverfahren Bürgerinnen und Bürger ausgewählt und zu Treffen geladen werden, bei denen ihnen Expertise vermittelt wird, sie Diskussionen führen können und mit Politik- und Wirtschaftsvertretern reden. Ziel ist es, ein Gutachten zu formulieren, mit der dann weiter gearbeitet werden kann.

Im Jahr 2019 wurde das Leipziger Experiment eines solchen Bürgerrats (das von dem Verein „Mehr Demokratie e.V.“ organisiert wurde) bundesweit stark beachtet; über die dortigen Vorschläge war sogar der Präsident des Bundestages beeindruckt.

Aus Sicht der Demokratieforschung wird hierzu seitens des FIDES-Vorstandes ein erster Kommentar versucht.

Wozu ein Bürgerrat?

Repräsentativ ausgewählte Bürgerräte können unter Zuhilfenahme aller Fachkenntnisse durchaus in die Lage versetzt werden, gute und weiterführende Vorschläge zu machen, wobei die Integration in die Verfassungswirklichkeit noch völlig offen ist.

Leipziger Bürgerrat Demokratie 2019

Die teilnehmenden Bürgerinnen und Bürger haben sich mit unterschiedlichen Meinungen zu möglichen Ergänzungen und Weiterentwicklungen der parlamentarischen Demokratie auseinandergesetzt. Dabei ging es vor allem um die Frage, die auch die beim Bundestag geplante Expertenkommission bearbeiten soll: Soll die parlamentarische Demokratie durch Elemente direkter Demokratie und Bürgerbeteiligung ergänzt werden? Wie muss das aussehen, damit sich die Bevölkerung wiederfindet? Am Schluss kommt ein Bürgergutachten heraus, in dem die geloste Versammlung ihre Empfehlungen für die Politik zusammenstellt.

Dazu ein Kommentar von der Homepage buergerrat.de: (vom Verein Mehr Demokratie e.V.)

Der Bürgerrat ist das Herzstück unseres Demokratie-Experiments. Hier haben im September 2019 per Los ausgewählte Menschen in einem geschützten Raum darüber gesprochen, wie es mit unserer Demokratie weitergehen kann. Hier saßen Leute zusammen, die sonst nie miteinander ins Gespräch gehen würden. Hier kamen auch die zu Wort, die sonst oft schweigen.

https://www.buergerrat.de/buergerrat/buergerrat-auf-bundesebene/

Wie sind Bürgerräte derzeit verbreitet in Europa?

Das Zwischenfazit zur Verbreitung von Bürgerräten gemäß der Homepage von „Mehr Demokratie e.V.“:

Bürgerräte gibt es als dauerhafte Einrichtung bereits in Irland, in der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Ostbelgien und im österreichischen Bundesland Vorarlberg. Auch in Frankreich und Nordirland soll es in Zukunft regelmäßig solche Bürgerversammlungen geben.

Ergebnisse des Leipziger Bürgerrats Demokratie 2019

Der Leipziger Bürgerrat Demokratie hatte an vier Tagen 22 Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Demokratie in Deutschland formuliert:

Nach vier Tagen intensiver Diskussion legte der Bürgerrat Demokratie am 28.9.19 die untenstehenden Ergebnisse vor. Sie sollen der Politik helfen, Wege aus der Demokratiekrise zu finden und die Verbindung der Bürger mit dem politischen System wieder stärken. Der Bürgerrat besteht aus 160 aus den Einwohnermelderegistern gelosten Menschen, 3 waren krankheitsbedingt verhindert, so dass 157 Menschen an der Ergebnis-Abstimmung teilgenommen haben.

BeschlussJaNein
1. Ergänzung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie1561
2. Ergänzung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch weitere Elemente der Bürgerbeteiligung1489
3. Ergänzung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch weitere Elemente der direkten Demokratie11344
4. Ergänzung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch Kombination von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie1552
5. Gesetzliche Verankerung eines bundesweiten Bürgerrats1525
6. Einberufung bundesweiter Bürgerräte durch Bevölkerung/Parlamente/Regierung1534
7. Mitglieder eines Bürgerrats sollen zufällig ausgewählt werden und die Gesellschaft möglichst repräsentativ widerspiegeln1570
8. Die Regierung muss sich zu Empfehlungen der Bürgerbeteiligung verpflichtend äußern1552
9. Ein bundesweiter Volksentscheid soll durch eine Initiative aus der Bevölkerung initiiert werden können1489
10. Es soll ein Vetorecht durch Volksentscheid im Gesetzgebungsprozess auf Bundesebene geben13324
11. Es soll die Möglichkeit der zusätzlichen Online-Abstimmung bei Volksentscheiden geben10750
12. Es soll ein Online-Beteiligungsportal nach dem Vorbild von Baden-Württemberg geben13522
13. Es soll zur Schaffung von mehr Transparenz ein Lobbyregister auf Bundesebene geben1534
14. Schaffung einer staatlich finanzierten, politisch unabhängigen Stelle, die bundesweit Bürgerbeteiligung und direktdemokratische Verfahren koordiniert, durchführt und dazu informiert1534
15. Die politische Bildung soll intensiviert werden, besonders zur demokratischen Teilhabe1525
16. Eine staatliche Finanzierung von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie muss gewährleistet sein1561
17. Eine ergänzende Drittfinanzierung von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie ist möglich und muss transparent sein11839
18. Verständliche und neutrale Informationen müssen auf verschiedenen Kanälen verfügbar sein1561
19. Bürgerbeteiligung und direkte Demokratie erfordern bundesweit gleiche und geeignete Zugangsmöglichkeiten1543
20. Ergebnisse von Bürgerbeteiligung und direkter Demokratie sollen grundsätzlich rückgängig gemacht werden können14413
21. Volksentscheiden soll immer ein Bürgerrat vorgeschaltet sein, um die Fragestellungen vorzubereiten und Informationen zusammenzutragen14017
22. Es soll ein angemessenes Quorum bei Volksentscheiden geben14115

Bei dem deutschlandweit bisher einmaligen Modellprojekt waren per Zufallsauswahl Gemeinden verschiedener Größenklassen gezogen und aus deren Einwohnermelderegistern per Los die Teilnehmenden des Bürgerrats bestimmt worden http://www.buergerrat.de.

Das Projekt wurde initiiert vom Verein Mehr Demokratie e.V. und der Schöpflin Stiftung und wurde durchgeführt von den Instituten nexus und IFOK und unterstützt von der Stiftung Mercator.    

Kern der Empfehlungen des Bürgerrats Demokratie ist offenkundig die Ergänzung der parlamentarisch-repräsentativen Demokratie durch einen gesetzlich verankerten Bürgerrat, insbesondere zur Vorbereitung bundesweiter Volksentscheidungen – wobei der Bürgerrat durch die Bevölkerung, das Parlament oder/und die Regierung einberufen werden kann.

Nach Einschätzung des Verfassers handelt es sich um ein bereits sorgfältig durchdachtes Konzept, wie Volksentscheidungen durch Bürgerräte sorgfältig vorbereitet werden könnten, das auf jeden Fall eine weitere Prüfung durch Experten verdient. Durch die sorgfältige Vorbereitung seitens der repräsentativ zusammengesetzten Bürgerräte könnte nach unserer Einschätzung auch die Hauptkritik an Volksabstimmungen, dass sie unter Umständen – ähnlich der damaligen, von Cameron eingeleiteten ersten Brexit-Abstimmung – mehr Verunsicherungen oder Frustrationen anstelle von Klärungen mit sich bringen könnten, zumindest teilweise entkräften.

Allerdings betreffen die Leipziger Empfehlungen nur einen einzigen Baustein einer möglichen Ergänzung des Grundgesetzes – keinesfalls alle möglichen Bausteine, wie unsere demokratische Grundordnung sachgerecht reformiert werden sollte, um mit einiger Wahrscheinlichkeit positive Impulse hinsichtlich der Bürgerakzeptanz zu erreichen. Dementsprechend fehlt in den Ergebnissen des Leipziger Bürgerrats noch die Auseinandersetzung mit zahlreichen anderen Fragen des real existierenden demokratischen Systems der Bundesrepublik Deutschland.

Es ist klar, dass nicht alle Fragen der deutschen Demokratie in 4 Tagen in Leipzig diskutiert werden konnten, trotzdem sollte eine ernsthafte Verfassungsreform unseres Erachtens eine Gesamtwürdigung des Systems beinhalten, deswegen holen wir im Folgenden etwas weiter aus.


Die positiven Erfahrungen mit dem Leipziger Bürgerrat sind vorübergehend in den Bundesländern Saarland und Thüringen in die politische Diskussion aufgenommen worden. Während sich im Saarland Landtagspräsident Stephan Toscani (CDU) für „repräsentative Bürgerforen“ eingesetzt hat, steht in Thüringen ein Bürgerrat zur Überprüfung der Bürgerbeteiligung im Koalitionsvertrag von Linken, SPD und Grünen.

Der saarländische Landtagspräsident Stephan Toscani formulierte:

„Bürgerforen wirken der Polarisierung und Spaltung der Gesellschaft entgegen, haben also eine befriedende Wirkung“. Außerdem werde der Einfluss von Lobbygruppen reduziert. Nach Meinung der CDU eignen sich „landespolitisch relevante Entscheidungen mit Grundsatzcharakter“ für einen Bürgerrat. Die SPD will dazu eine Anhörung im Parlament zur Weiterentwicklung der Bürgerbeteiligung, bei der auch Bürgerräte eine Rolle spielen sollen.
Auf die Bürgerrat-Idee gebracht hat den Landtagspräsidenten Markus Breit aus Ensheim. Der Hausmeister gehörte im vergangenen September zu den 160 ausgelosten Mitgliedern des Leipziger Bürgerrates Demokratie.

Der Verein „Mehr Demokratie e.V. hat sich nach unserer Einschätzung zu einem der wichtigsten Think Tanks zur Demokratie in Deutschland entwickelt (Geschäftsführende Vorstände sind Roman Huber und Alexander Trennheuser), wie es auch die Aktivitäten in 2021 (abgerufen am 13.08.2021) zeigen:

  • Losbasierte Bürgerräte auf Bundesebene zu verankern, ist weiter das herausragende Ziel des Vereins; hierfür werden 2021 50 Mini-Kampagnen in Schlüssel-Wahlkreisen durchgeführt und zentrale Aktionen während der Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2021 geplant.
  • Zusätzlich wird die erste selbstorganisierte bundesweite Volksabstimmung („Abstimmung 21“) zu folgenden vier Themen durchgeführt
    • Bundesweite Volksabstimmungen
    • Doppelte Widerspruchsregelung bei Organspenden
    • Einführung eines gemeinwohlorientierten Krankenhausfinanzierungs-Systems
    • Klimapaket zum Erreichen des 1,5-Grad-Ziels bis zum Jahr 2035.
  • Am 28.04.2021 wurde eine Video-Konferenz unter dem Titel „Die Zukunft zur Konferenz Europas – ein demokratischer Neustart der EU?“ veranstaltet.
  • Am 07.04.2021 wurde eine Video-Konferenz unter dem Titel „Transformative Politik“ veranstaltet, in der u.a. Roman Huber mit dem Autor Hanno Burmester diskutierte über dessen Buch „Liebeserklärung an eine Partei die es nicht gibt“.

Planungszellen als ähnliches Modell der Universität Wuppertal

Die Bergische Universität Wuppertal hatte bereits in den 70er Jahren das Projekt „Planungszelle“ begonnen. Es ist im Prinzip die kleinere, regionale Variante eines Bürgerrates, wobei die Zusammensetzung durch ein reines Losverfahren entsteht (ohne die Repräsentativität des Gremiums so aufwändig herzustellen, wie es anlässlich des Leipziger Bürgerrats umgesetzt wurde. Bei der Planungszelle geht im Groben darum, die Bürger einer Region zu einem Großprojekt zu schulen, um anschließend ein gemeinsames Bürgergutachten zusammen zu tragen, mit dem die Politik und die Wirtschaft weiter arbeiten können.

Der Ablauf einer solcher Planungszelle wurde von der Bergischen Universität Wuppertal in folgender Grafik abgebildet:

QUELLE: https://www.idpf.eu/die-planungszelle/

Mit diesem Verfahren wurden bereits einige erfolgreiche Projekte durchgeführt. (© Institut für Demokratie– und Partizipationsforschung (IDPF) | Bergische Universität Wuppertal )

Vorschlag zur Demokratiereform durch Altmaier 2019

Auf Bundesebene hat soweit ersichtlich nur ein Minister die Notwendigkeit einer maßvollen Demokratiereform formuliert, eine Persönlichkeit von der man es sicherlich nicht erwartet hätte: Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier hat nach den Ergebnissen der Thüringen-Wahl einen nachdenklichen Artikel über eine grundlegende Politikreform veröffentlicht, um das Vertrauen der Bürger in die Parteien zurück zu gewinnen (der anschließend von anderen Vertretern der Großen Koalition und den politischen Gegnern leider nicht sehr positiv aufgenommen wurde):

  • Wenn das Parlament zu groß wird, wird dadurch sowohl die Arbeitsfähigkeit als auch nachfolgend die Bürgerakzeptanz negativ beeinflusst. So fordert Altmaier eine Verkleinerung des Bundestages („seit zehn Jahren überfällig“, derzeit 709 Abgeordnete). Weil dieses Reformvorhaben bislang an Partei- und Landes-Egoismen gescheitert ist, schlägt Altmaier jetzt vor, die Zahl der Abgeordneten alle vier Jahre um 40 Sitze zu reduzieren, bis eine angemessene Zahl erreicht ist.
  • Die Zahl der Minister sollte auf 15 festgeschrieben werden und die Zahl der Staatssekretäre und Regierungsbeauftragten ab der nächsten Regierungsbildung um ein Drittel reduziert werden.
  • Zu viele Wahltermine; Bundestags- und Landtagswahlen müssten stärker konzentriert und zusammengefasst werden.
  • Auch die Wahlperiode im Bund sollte auf fünf Jahre verlängert werden.
  • „Wahlkampf in Dauerschleife ermüdet die Bürgerinnen und Bürger und verstärkt das Gefühl, dass es nur um Personalfragen oder Wahlversprechen und nicht um Sachthemen geht.“
  • Politik hat aber die Aufgabe, Sachfragen und Problemlösungen für die Themen voranzubringen, die die Menschen bewegen, wie Rente, Gesundheit, Bildung und Arbeit.“
  • „Neue Debattenkultur“ und „mehr Transparenz und Interaktionsfähigkeit.“
  • „Im Vorfeld von Gesetzen Online-Anhörungen und zwar so, dass die Bedenken und Vorschläge der Bürger auch tatsächlich Berücksichtigung finden können.“
  • „Umgekehrt sind alle Politiker in der Verantwortung, unsere Verfassungsorgane zu stärken und nicht selbst zu schwächen.
  • Informelle Gremien, zum Beispiel die Koalitionsausschüsse, haben in solchem Maße zugenommen, dass die formell zuständigen Gremien entwertet werden. Auch das trägt zur Verdrossenheit bei den Bürgerinnen und Bürgern bei, weil die allermeisten Entscheidungen hinter verschlossenen Türen getroffen werden und Entscheidungsprozesse in den eigentlich dafür berufenen Verfassungsorganen, nämlich in der Bundesregierung und dem gewählten Parlament, an Bedeutung verlieren.“
  • Auch der Bundesrat ist viel zu oft dadurch gelähmt, dass sich jeder Koalitionspartner einer Landesregierung ein Veto-Recht vorbehält. Künftig sollte die Stimme eines Landes nur noch vom Ministerpräsidenten abgegeben werden können – so wie es bereits Thomas de Maizière vorgeschlagen hat.

Peter Altmaier plädiert immerhin für eine grundlegende Reform der politischen Abläufe, damit die demokratischen Parteien Vertrauen zurückgewinnen und formuliert selbstkritisch:

„Wir dürfen unsere Hände nicht in Unschuld waschen, wenn der Anteil der Wähler, die keine staatstragende Partei mehr wählen, sich verdoppelt, die Mitgliederzahl der Parteien sich halbiert und die Abgeordnetenzahl immer weiter steigt“, schrieb Altmaier. Die großen Parteien müssten zu Veränderungen bereit sein. 
Als konkrete Maßnahme schlug er vor, den Bundestag zu verkleinern. „Ich bin der Meinung, dass wir noch in diesem Jahr eine Parlamentsreform brauchen, die zu einer deutlichen Verkleinerung in mehreren Stufen führt. Die Zahl der Abgeordneten sollte alle 4 Jahre um 40 Sitze reduziert werden, bis eine angemessene Zahl erreicht ist.“  
Die Zahl der Minister solle auf 15 festgeschrieben werden und die Zahl der Staatssekretäre und Regierungsbeauftragten ab der nächsten Regierungsbildung um ein Drittel reduziert werden. Bundestags- und Landtagswahlen müssten stärker konzentriert und zusammengefasst werden. Auch die Wahlperiode im Bund müsse auf fünf Jahre verlängert werden.

Siehe auch Zeit online vom 07.11.2019 Thüringen-Wahl: Peter Altmaier will politisches System grundlegend reformieren

Neustaat: Initiative von CDU-/CSU-Bundestagsabgeordneten 2020

MdB Thomas Heilmann und MdB Nadine Schön haben zusammen mit 62 weiteren Abgeordneten der CDU-/CSU-Fraktion in einer Projektgruppe „Innovation“ zusammen getragen, wie sich Politik und Staat ändern müssten. FIDES hat das hieraus entstandene Buch ausgewertet (sämtliche Zeitenangaben beziehen sich auf dieses Buch)

Einleitend wird anhand konkreter Beispiele aus der Bundesverwaltung (u.a. Erweiterung des Hauptzollamts Itzehoe, sie benötigt mindestens 11 Jahre) festgestellt: „Wir sind zu bürokratisch, zu starr und zu langsam“ (S.12 und S. 15). Dieser treffenden Beschreibung der Schwerfälligkeit deutscher Verwaltungen setzen die Autoren 5 Megatrends gegenüber, auf die sich unser Staat einstellen muss:

  • Digitalisierung
  • neue internationale Konkurrenz
  • Klimawandel
  • Pandemie-Vorsorge
  • Wandel der Gesellschaft

Anschließend werden die verwaltungswissenschaftlichen Leitbilder „der lernende Staat“ bzw. „evidenzbasierte Politik“ entwickelt (S. 46). Auch nach meiner Überzeugung wäre es für Deutschland überfällig, die Politik an sachpolitischer Evidenz zu orientieren, also an wissenschaftlich nachweisbaren Wirkungen jedes Reformvorhabens zu orientieren. Dies besitzt zum Beispiel in der Schweiz und in Österreich sogar Verfassungsrang. 

Im weiteren Buch werden insgesamt 103 Vorschläge zur Modernisierung Deutschlands entwickelt. Ausführlich werden vor allem folgende Themen dargestellt:

  • „Staat-up“, der Staat muss eine neue Gründerzeit für Start-ups fördern)
  • Doppelrente, um dem Kollaps des Rentensystems zu entgehen
  • „Daten für alle statt Daten für die Kraken“ (Google, Facebook)
  • „Ohne KI gehen wir k.o.“
  • „Digitale Leitkultur als wichtigste Aufgabe der Wirtschaftspolitik“
  • „Die Zukunft der Arbeit ist flexibel, sicher und selbstbestimmt“
  • „Klima: Die grüne Null“
  • „Der Lernende Staat“: neue Verwaltungskultur, Reform der Politik
  • „Ein ganz neu gedachtes Digitalministerium“

Während des Bundestagswahlkampfs 2021 haben sich der CDU-Vorsitzende Armin Laschet („„Wir sollten möglichst viel von NEUSTAAT umsetzen.“) und Bundeskanzlerin Angela Merkel („„Die NEUSTAAT-Inititiative kommt gerade recht und ist ungeheuer wichtig.“) hinter die Neustaat-Initiative gestellt (abgerufen am 13.08.2021). Das Motto lautet jetzt „Neustaat – Der Staat disruptiert sich selbst“.

FIDES-Zwischenergebnisse

Es gibt also sehr viele unterschiedliche Vorschläge.

Die eigentlich notwendige Diskussion, wie die vielen positiven Ansätze (insbesondere von Bürgerräten bzw. Planungszellen) sinnvoll in die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland integriert werden sollten, wurde bislang leider nur in Ansätzen begonnen. Nach FIDES-Beobachtung existieren leider immer noch mehrere „Welten“, zwischen denen kaum eine sachgerechte Diskussion entstanden ist:

  • die Welt der Demokratie-Aktivisten wie der Verein „Mehr Demokratie e.V.“, die sich scheinbar auf die zusätzlichen Demokratiebausteine Bürgerrat und Volksabstimmung festgelegt haben
  • die Welt der Berufspolitiker, die so mit dem parteipolitischen Wettstreit beschäftigt scheinen, dass sie wichtigen Vorschläge der Demokratie-Aktivisten – wenn überhaupt – nur am Rande wahrnehmen und die auch die älteren politikwissenschaftlichen Erkenntnisse, die Altmaier dankenswerter Weise in die bundespolitische Diskussion einbringt, kaum aufnehmen.
  • immerhin gibt es eine jüngere Generation von CDU-/CSU-Politikern, die zumindest die Problematik der digitalen Revolution verstanden haben und im Buch Neustaat verwaltungswissenschaftlich orientierte Reformansätze formuliert haben. Soweit erkennbar gibt es leider auch in diesem Buch weder einen klaren Bezug zu den Bürgerräten von „Mehr Demokratie e.V.“ noch zum Artikel von Peter Altmaier.

Die Reaktionen auf Altmaiers Vorschlag waren durchwachsen und zeigten, wie wenig zu Ende gedacht die Diskussion um eine Erneuerung der Demokratie in Deutschland bislang ist. Manche haben darüber gleich im Netz gespottet. Dabei wird der Spott Peter Altmaier nicht gerecht – wer ihn erlebt hat, weiß das er wirklich persönlich berührt war – am Tag nach der Thüringen-Wahl, als AfD und Die Linke erstmals zusammen über 50% der Wählerstimmen bekamen. Außerdem kann aus Sicht der Demokratieforschung festgehalten werden, dass Altmaier nur gefordert hat, was viele seit vielen Jahren festgestellt haben (u.a. auch FIDES[1]) und was ich in Teilen – wenn ich etwas frech sein darf – schon als vor vierzig Jahren als Abiturient im Politik-Leistungskurs gelernt hatte. Es ist nach meiner Überzeugung bedauerlich, dass seitdem keine sachgerechte Verfassungsreform gelungen ist – bei einem doch insgesamt gelungenen Grundgesetz.

Fazit: Der Beobachter vermisst also immer noch ein Gesamtkonzept zur maßvollen Reform unseres Grundgesetzes, die Chancen einer höheren Bürgerzufriedenheit erweckt, ohne dass aber Chaos-Tendenzen wie in Großbritannien nach dem Brexit-Beschluss entstehen dürfen.

Die FIDES-Arbeitsgruppe geht davon aus, dass nach der Bundestagswahl 2021 erstmals eine ernsthafte Bereitschaft zur Demokratiereform festgestellt werden kann.

Nach unserer Überzeugung sind alle auf der obigen Seite vorgestellten Konzepte dafür beachtenswert; deshalb werden die Vorschläge auch im nächsten Abschnitt kombiniert.

FIDES-Vorschlag zur Demokratiereform

Überblick

Im folgenden Abschnitt wird eine Reformskizze zur Erreichung der oben genannten Ziele dargelegt:

  • Überwindung des Systems des kontinuierlichen Wahlkampfs, wodurch opportunistische Kalküle bzw. das parteipolitische „Schielen“ nach der Meinung der Bürger begrenzt werden sowie die Kosten der Wahlkämpfe erheblich vermindert werden
  • Konsequente Sachorientierung der demokratischen Willensbildung mit Bürger-/ Sachverständigenräten und kontinuierlicher Evaluation der Politikfelder
  • systematische Begrenzung des parteipolitischen Einflusses durch vermehrte Persönlichkeitswahlen und sorgfältig vorbereitete Volksentscheide.

Überwindung des Systems des ständigen Wahlkampfs

Bereits zur Schulzeit des Verfassers (Ende der 70er Jahre) wurde im Leistungskurs Politik der kontinuierliche Wahlkampf als wesentliche Schwäche des deutschen Systems identifiziert. Obwohl das Problem also lange bekannt ist, hat sich niemand drangemacht, die Wahlen der unterschiedlichen föderalen und kommunalen Ebenen in Deutschland zu ordnen bzw. zu bestimmten Terminen zusammenzulegen.

Wenn man davon ausgeht, dass auch die flächendeckenden Kommunalwahlen einen gewissen bundespolitischen Einfluss haben, erscheint es sachgerecht, dass alle vier Wahlebenen (EU, Bundestag, 16 Landtage und 16 mal flächendeckende Kommunalwahlen) zeitlich so angeordnet werden, dass grundsätzlich nur alle 2 Jahre ein Wahlkampf mit bundespolitischer Bedeutung stattfindet. Für die Zwischenzeit wird vorgeschlagen, dass zusätzlich im Wege der deliberativen Demokratie repräsentativ zusammengesetzte Bürgerräte gebildet werden, die sich zusammen mit Sachverständigen um die Evaluation einzelner Politikfelder kümmern und anschließend zusammen mit dem Bundestag ggf. Volksabstimmungen sorgfältig vorbereiten.

Wenn man zusätzlich vorschlägt, dass die Legislaturperiode auf einheitlich sechs Jahre verlängert wird, dann könnten alle bundespolitisch relevanten Wahlen (repräsentative Demokratie) in folgendem Turnus stattfinden:

  • Bundestagswahl im Herbst 2020
  • 16 Landtags-/Ministerpräsidentenwahlen im Herbst 2022
  • EU-Wahl, 16 flächendeckende Kommunalwahlen im Herbst 2024

Zur Vereinheitlichung der Legislaturperioden sollten grundsätzlich durch Tod ausscheidende Mandatsträger von ihren Stellvertretern bzw. Nachrückern ersetzt werden.

Konsequente Sachorientierung in der demokratischen Willensbildung mit kontinuierlichen Evaluationen

Die hier vorgelegte Reformskizze setzt weniger auf Länderneugliederungen (weil sie so schwer umsetzbar sind), sondern versucht die dringend erforderliche Modernisierung von

Verwaltung, Staat und Demokratie über eine Kombination folgender Bausteine zu erreichen:

  • Vergleichbarmachung aller staatlichen und kommunalen Verwaltungen durch deutschlandweit einheitliche Ressortzuschnitte der Verwaltungen, die eine Zuordnung sämtlicher Verwaltungen zu Politikfeldern ermöglicht und auf diesem Wege die Basis für ein aussagekräftiges Benchmarking und kontinuierliche Evaluationen legen, um den dringend notwendigen Reformdruck zu erzeugen und koordinierte E-Government-Lösungen zu ermöglichen.
  • Für alle relevanten Politikfelder sollten schrittweise repräsentativ ausgeloste Bürgerräte gebildet, die das jeweilige Politikfeld über den festgelegten Zeitraum begleiten, nach Grundsätzen der deliberativen Demokratie sachkundig gemacht werden und die Zielerreichung im Hinblick auf die gesetzlich vorgegebenen Ziele beurteilen (mit Zugang zu den Sachverständigen, die die Evaluationen durchführen). Die nach dem Zufallsprinzip gewählten Mitglieder der Bürgerräte sollten entsprechend ihres Zeiteinsatzes proportional zu den derzeitigen Abgeordnetendiäten vergütet werden und öffentlich an den Bundestag berichten, um die sachpolitische Diskussion zwischen Politikern und sachkundigen Bürgern zu intensivieren und die Plenararbeit deutlich zu stärken.
  • Auf Vorschlag des zuständigen Bürgerrats (und wenn durch Bürgerinitiativen ein bestimmtes Quorum erreicht wird) sollte der Bundestag das Recht bekommen, auf Bundesebene (zwischen den regulären Wahlen) sorgfältig vorbereitete Volksabstimmungen zu sachpolitischen Fragestellungen durchzuführen (mit vorheriger Beschreibung der Konsequenzen, Kosten-Nutzen-Analysen usw.).
  • Deutliche Verkleinerung des Bundestages von über 500 auf etwa 160 Abgeordnete, davon die Hälfte direkt gewählt, deren Vergütung aber erhöht werden sollte, um wirklich die klügsten Köpfe anzuziehen (während für alle Landtagsmitglieder keine Abgeordnetendiäten mehr gezahlt werden sollten und die Kosten des Gesamtsystems, einschließlich der Bürgerräte, nicht erhöht werden sollten). Die überschaubare Zahl der Bundestagsabgeordneten sollte dazu führen, dass einerseits viel weniger Ausschussarbeit im Hintergrund geleistet wird (abgesehen von den öffentlich tagenden Bürgerräten), aber die Bundesabgeordnete wieder stärker als öffentlich sichtbare Persönlichkeiten erlebt werden können.
  • Evaluationen sollten ähnlich wie in der Schweiz und in Österreich für ganze Politikfelder (jedes Politikfeld über alle staatlichen und kommunalen Ebenen) kontinuierlich nach Bedarf durchgeführt werden, damit die tatsächlichen Wirkungen der Politiken überprüft und Effizienz- und Effektivitätsfortschritte tatsächlich erreicht werden (z.B. über ein fundiertes Benchmarking und empirisch fundiertes Wirkungscontrolling), so dass im Idealfall die Leistungen der Verwaltungen für die Bürger kontinuierlich verbessert werden.
  • Eine sachgerechte Föderalismusreform, die die schwierigen Zukunftsthemen wie Wissenschaft und Forschung hauptsächlich dem Bund zuweist, sowie die langerwartete Vereinfachung des deutschen Steuerrechts sollten weitere Bausteine der bürgerorientierten Demokratiereform sein.
  • Wie es der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmitt vorgeschlagen hatte, wird hier ebenso unterstützt, dass die 16 Ministerpräsidenten künftig im Sinne der Persönlichkeitswahl direkt von den Bürgern gewählt werden sollten (zeitgleich zu den Landtagswahlen). Dies kann bedeuten, dass die Persönlichkeit die gewählt wird mit einer anderen Mehrheit im Landesparlament sachpolitisch zusammenarbeiten muss, wie es auch im kommunalen Bereich üblich ist. Hierdurch wird die Rolle der Parteien deutlich geschwächt, weil eine Persönlichkeit die Letztverantwortung für die Landespolitik trägt, egal welches Parteibuch vorliegt.
  • Jede der 16 Landesregierungen gliedert sich damit auf Dauer in uneingeschränkt vergleichbare Ministerien, Abteilungen und Referate Ebenso wird unterhalb des Landesministers im Ministerium nur ein Staatssekretär erlaubt, der zudem zwingend Beamter auf Lebenszeit ist und auch nach der Wahl im Amt bleiben muss, um den regelmäßigen Knowhow-Verlust zu verhindern und die Parteieinflüsse zu begrenzen.
  • Ergänzend wird hier die Meinung vertreten, dass längerfristig auch sämtliche Landesminister ähnlich wie die Dezernenten einer Stadtverwaltung im Wege der Persönlichkeitswahl direkt gewählt werden (z.B. Finanzexperten für das Finanzressort).
  • Für die Modernisierung des Gesamtstaats und im Hinblick auf die kontinuierliche Evaluation der Politikfelder ist es ganz wichtig, dass alle 16 Landesregierungen einheitliche Ressortzuschnitte aufweisen, die mit der der Bundesregierung genauso wie den der Kommunen abgestimmt sein sollten, damit die Arbeit aller Regierungen und Verwaltungen künftig leichter systematisch verglichen und verwaltungswissenschaftlich beurteilt werden kann.

Ein Bundestagsabgeordneter sollte sich künftig als Top-Manager verstehen, der nicht mehr nur gesetzgebungsorientiert arbeitet, sondern verstärkt Koordinationsaufgaben übernehmen (und damit die Managementrollen nach Mintzberg durchweg erfüllen). Seine höchsten Ziele sollten es sein,

  • auf regionaler Ebene als Sachwalter seiner Bürger bzw. seiner Region koordinierend zu dienen und nach der Föderalismusreform z.B. in den regionalen Hochschulräten Mitverantwortung für die regionale Wissenschafts- und Wirtschaftsförderungsstrategie zu übernehmen
  • auf Bundesebene als sachpolitisch kompetenter Moderator und Konfliktlöser im Verhältnis zu den Bürgerräten einerseits, der Bundesregierung und den operativ tätigen Bundesverwaltungen und -unternehmen andererseits erlebt zu werden.

Durch die Stärkung der sicht- und überschaubaren Parlamentsarbeit und auch durch die erforderliche Managementkompetenz jedes Bundestagsabgeordneten soll also auch das Hauptinstrument der repräsentativen Demokratie gestärkt werden. Leitidee ist dabei, dass die zwei Abgeordneten eines Wahlkreises von etwa 1 Mio. Einwohnern sich als öffentlich sichtbare Vertreter dieser Bürger verstehen und auch zu vielen Bürgern ihrer Region langfristig vertrauensorientierte Beziehungen aufzubauen, damit sie immer weniger um des Parteibuchs willen, sondern mehr wegen ihrer überzeugenden Persönlichkeit gewählt werden.

Insgesamt wird der Leser nachvollziehen können, dass auf diese Art und Weise mit recht einfachen Mitteln die Bürgerpartizipation wesentlich erhöht und die sachpolitische Qualität staatlichen Handelns gesteigert werden kann, ohne dass Gefahren der Unregierbarkeit drohten. Natürlich müssen neben dem Grundgesetz sämtliche Verfassungen der Länder überarbeitet werden, ohne dass sie jedoch ihren bisherigen Charakter verlieren würden. Vielmehr bestehen echte Chancen, den öffentlichen politischen Dialog in seiner Qualität zu steigern und vermehrt langfristig angelegte, vertrauensorientierte Beziehungen zu „unseren“ Politikern aufzubauen – auch zur politischen Führung insgesamt (Bundes- wie Landesregierungen) – und so im Endergebnis die Politik- und Politikerverdrossenheit deutlich zu senken.


[1] Christian Marettek 2019, Was braucht Deutschland? Wie soll es mit Europa weitergehen? S. 97ff.