Thüringen-Krise 2019/20

Von Manuel Hipfel und Dr. Christian Marettek (Redaktionsschluss 13.09.2021)

Überblick

Die bundespolitisch bedeutendsten Probleme der Bundesländer aus Sicht der Demokratieforschung betrafen in der vergangenen Legislaturperiode hauptsächlich den Freistaat Thüringen.

Nach der Thüringer Landtagswahl vom 27.10.2019 ist eine verfassungsrechtlich schwierige  Pattsituation entstanden, weil die Parteien „Die Linke“ und „AfD“ zusammen rund 54% der Stimmen haben. Bei strenger Betrachtung gibt es keine demokratische Mehrheit mehr.

Die beiden überwiegend als undemokratisch bzw. populistisch eigeschätzten Parteien haben in Thüringen also erstmals die rechnerische Mehrheit. In der Bundesregierung hat darauf – soweit erkennbar – mit der u.E. notwendigen Selbstkritik am demokratischen Gesamtsystem nur der an sich nicht zuständige Wirtschaftsminister Altmeier (CDU) geantwortet; vgl. dazu ausführlich unsere Analyse.  

Nach der FIDES-Analyse muss aber auch hinsichtlich von Linkspartei und AfD beachtet werden, dass es innerhalb der beiden genannten Parteien sicherlich auch zahlreiche demokratisch gesinnte PolitikerInnen gibt – so z.B. den Ministerpräsidenten Ramelow von der Linkspartei – genauso wie es auch populistisch-undemokratische Tendenzen innerhalb der anderen Parteien geben dürfte (FIDES-Hypothese). Eine pauschale Verteufelung gewählter PolitikerInnen dürfte der Demokratie wenig helfen. Vielmehr kommt es auf die demokratische Überzeugung jeder Person an.

 

Bei der Landtagswahl in Thüringen 2019, hat jedenfalls keine der in Deutschland etablierten Regierungskoalitionen eine Mehrheit erlangt. 

Daraufhin haben die im Thüringer Landtag vertretenen Parteien fast ein halbes Jahr versucht, eine Regierungsbildung trotzdem zu ermöglichen. Insbesondere wurde angestrebt, eine Minderheitsregierung der bisherigen Regierungskoalition unter dem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow fortzuführen, was schließlich unter Duldung der CDU auch gelang.

Zuvor aber erfolgte am 05.02.2020 die Wahl des FDP-Fraktionsvorsitzenden Kemmerich zum Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD unter Björn Höcke, der den völkischen Flügel der AfD bundesweit anführt und aus diesem Grund im Februar 2020 ein bundesweiter Aufschrei vieler PolitikerInnen/ Kommentatoren erfolgte, den wir in unserer FIDES-Arbeitsgruppe sorgfältig untersucht haben.

Dass es sich um AfD-Stimmen handelt ließ sich daraus ableiten, dass keine einzige Stimme an ihren eigenen Kandidaten ging. Nie zuvor stellte die schwächste Partei den Ministerpräsidenten.

Der FDP-Parteivorsitzende Christian Lindner erklärte noch am selben Abend: „Wer […] unsere Kandidaten in einer geheimen Wahl unterstützt, liegt nicht in unserer Macht.“ (Quelle: Wikipedia)

Andererseits hat Lindner noch am selben Tag eine Zusammenarbeit mit der AfD kategorisch ausgeschlossen. „Die FDP verhandelt und kooperiert mit der AfD nicht. Es gibt keine Basis für eine Zusammenarbeit“, sagte er am Mittwoch in Berlin. Lindner rief CDU, SPD und Grüne in Thüringen dazu auf, ein von Kemmerich gemachtes Gesprächsangebot anzunehmen. Sollten diese sich dem aber fundamental verweigern, wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus seiner Sicht auch nötig. (Quelle: Augsburger-Allgemeine)

Bundesweiter Aufschrei zur Wahl Kemmerichs

Außerhalb Thüringens stieß Kemmerichs Wahl zunächst vor allem bei der AfD, der konservativen Werteunion und Teilen der FDP spontan auf Zustimmung. Zunächst äußerte sich der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki gegenüber der Deutschen Presse-Agentur hocherfreut, dass „ein Kandidat der demokratischen Mitte“ gesiegt habe. Er sehe darin die Chance, „eine vernünftige Politik für Thüringen voranzutreiben“. AfD-Parteichef Jörg Meuthen schrieb, das Ergebnis sei der „erste Mosaikstein der politischen Wende in Deutschland“. Volker Wissing, Mitglied des FDP-Bundesvorstands, hatte Kemmerichs Kandidatur verteidigt und als „honorig“ bezeichnet.(Quelle: Abgerufen von Wikipedia am 13.09.2021)

Das Wahlergebnis und Kemmerichs Annahme der Wahl sorgten jedoch sehr bald bundesweit für erhebliche Kritik von Spitzenpolitikern auch der FDP. Aktuelle und ehemalige führende FDP-Politiker wie Gerhart Baum, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Alexander Lambsdorff, Joachim Stamp und Katja Suding forderten seinen sofortigen Rücktritt. Auch Christian Lindner forderte ihn, nach anfänglichem Zögern, schließlich zum Rücktritt auf und bezeichnete es als einen Fehler, „eine Wahl unter diesen Bedingungen angenommen zu haben.“ Er betonte, dass es mit der FDP „keine angestrebte und verhandelte, aber auch nicht unfallweise, aus Versehene [sich] Kooperation mit der AfD geben“ werde. (Quelle: Abgerufen von Wikipedia am 13.09.2021)

Der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen Armin Laschet (CDU) kritisierte die Wahl: „Niemals darf sich ein Regierungschef von Extremisten, auch nicht in schwierigen Mehrheitssituationen, auch nicht zufällig, wählen lassen.“ (Quelle: Abgerufen von Wikipedia am 13.09.2021)

Kanzlerin Angela Merkel (CDU) bezeichnete die Wahl eines Ministerpräsidenten mit AfD-Stimmen in Thüringen als „unverzeihlich“ – Das Ergebnis dieses Vorgangs müsse rückgängig gemacht werden – was im Anschluss sogar eine Verfassungsbeschwerde der AfD vor dem Bundesverfassungsgericht ergab. (Siehe Sueddeutsche.de 21. Juli 2021) Das Ergebnis steht beim Redaktionsschluss noch aus.

Wie beurteilen Politikwissenschaftler die Wahl Kemmerichs?

Der Politikwissenschaftler André Brodocz sagte, die FDP „als Verteidigerin der Bürgerrechte, als Verteidigerin von Minderheiten öffnet sich an dieser Stelle für die Kooperation mit einer Partei, die dort andere Vorstellungen hat“. Sich darauf zurückzuziehen, bei einer geheimen Wahl wisse man nicht, wer mitgewählt habe, und nicht zu erkennen, dass das „auch eine Form von Kooperation“ sei, erscheine „entweder politisch naiv oder eben völlig unwissend“. Laut dem Politikwissenschaftler Michael Koß sind die Vorgänge ein „Fall von Republikflucht“. Die Ausgrenzung totalitärer oder extremistischer Kräfte sei „Geschäftsgrundlage der Bundesrepublik“ gewesen. Auf Bundesebene habe die FDP lieber nicht regiert, als falsch zu regieren, und jetzt nehme sie billigend in Kauf, von der „Höcke-AfD“ gewählt zu werden. Die CDU habe sich „skeptisch“ gegenüber einer Zusammenarbeit mit der Linken gezeigt, jetzt kooperiere sie „zumindest indirekt“ mit der AfD. Die Rolle der AfD werde mit diesem „Coup“ deutlich aufgewertet, äußerte der Politikwissenschaftler Uwe Jun. Der Historiker Norbert Frei kritisierte die „Leichtfertigkeit“ Kemmerichs, mit der dieser sich in die Gefahr begeben habe, von „erklärten Antidemokraten“ gewählt zu werden, als „Skandal“. Herfried Münkler sah eine „Krise des politischen Personals“ und attestierte CDU und FDP entweder „eine doch beachtliche Skrupellosigkeit“ oder aber „handwerkliche Naivität“: „Das zeigt schon, dass hier wir es mit Leuten zu tun haben, die weder in taktischer, noch in strategischer Hinsicht wirklichen Aufgaben gewachsen sind.“ (Quelle: Abgerufen von Wikipedia am 13.09.2021)

Der Politikwissenschaftler Hajo Funke hielt die Vorgänge zwar für einen „Tabubruch“, sah jedoch keinen „Dammbruch“; aufgrund der empörten Reaktionen vieler Menschen sei der Damm eher noch höher geworden. Von „einer Machtperspektive“, so Funke, habe sich „die AfD damit noch weiter entfernt“. (Quelle: Abgerufen von Wikipedia am 13.09.2021)

FIDES-Analyse

Warum ist ein formal korrekter demokratischer Vorgang als „unverzeihlich“ zu beurteilen? Im Kern hat Kemmerich sich von einer politischen Kraft mit wählen lassen, die von einem Politiker Höcke angeführt wird, der ein völkisches Verständnis verbreiten möchte und dieses über die Demokratie stellt, was alle engagierten Demokraten nicht hinnehmen dürfen. 

Christian Lindners Reaktionen empfinden wir grundsätzlich als demokratiekonform, zum Anfang aber doch als naiv. Sich im Parlament mit geschenkten Stimmen der AfD-Abgeordneten wählen zu lassen, heißt zwar noch lange nicht, deren politische Überzeugung anzuerkennen. Vor allem auch deshalb, weil Kemmerich sofort nach der Wahl jede Zusammenarbeit mit der AfD ausschloss und stattdessen CDU, SPD und Grünen anbot, gemeinsam eine überparteiliche Minderheitsregierung zu bilden. (Quelle: Abgerufen von Wikipedia am 13.09.2021)

Dies ist an sich eine dem parlamentarischen System angemessene Verhaltensweise – aber nicht der geeignete Weg eine stabile Landesregierung zu bilden – außerdem fragwürdig wegen der Publicity für Björn Höckes AfD, die im Grunde die demokratischen Parteien ausgetrickst hatte. Daher ist der Rücktritt von Kemmerich notwendig gewesen, auch nachdem die anderen Parteien sein Angebot abwiesen.

Auch der Rücktritt von Annegret Kramp-Karrenbauer als CDU-Vorsitzende (sicherlich auch wegen anderer Ungeschicklichkeiten) wird von Beobachtern auch mit dem „Thüringen-Desaster“ in Verbindung gebracht. Aus Sicht der CDU-internen Willensbildung wurde kritisiert, dass es das Gespann aus AKK und Mike Mohring (CDU-Fraktionsvorsitzender) im Vorfeld trotz offenkundiger Interventionsversuche nicht geschafft hatte, den Wahlvorgang Kemmerichs zu verhindern (und damit die ganze Trickserei Höckes).

Das in den 3 Tagen seiner Amtszeit fast mehr über den geworfenen Blumenstrauß zu seinen Füßen berichtet wird (der für Ramelow vorgesehene Blumenstrauß wurde Kemmerich zu Füßen geworfen), ist ein weiteres Beispiel für die Tragkraft von Kleinigkeiten in unserer heutigen Gesellschaft. Das sollten wir baldmöglichst überwinden, um zu den wesentlichen politischen Inhalten zurückkehren zu können.

Wichtig ist aus unserer Sicht, sich noch einmal genau anzuschauen, welche Meinungen Höcke persönlich vertritt. Wir sind der Überzeugung, dass die nicht hinnehmbare Zusammenarbeit insbesondere mit dem völkischen Flügel der AfD nicht als emotional übersteigerter Reflex angesichts der NS-Barbarei von den BürgerInnen erlebt werden sollte, sondern die völkischen und damit rassistischen Denkweisen als eindeutige Verstöße gegen die weltweit geltenden Menschenrechte und die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland demaskiert werden. Wie es im Artikel 1 Abs. 1 Grundgesetz unmissverständlich klar gestellt wird, ist die Würde jedes Menschen unantastbar („sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“). Das Deutsche Volk bekennt sich in Artikel 1 Abs. 2 Grundgesetz darum „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“.  

Völkisches Denken ist nicht nur ein „Tabu“ sondern eindeutig verfassungswidrig

Wenn man davon ausgeht, dass Höcke mit diesem Trick nur vorhatte, seine AfD in der gesamten deutschen Bevölkerung als staatstragend und damit als wählbar darzustellen, ist der Aufschrei vieler Politiker wohl doch verständlich, wenn man sich die politischen Überzeugungen von Björn Höcke genau anschaut. Wenn man der bunt schillernden Persönlichkeit von Höcke gerecht werden will, ist es hoch interessant wie in der Wikipedia seine elterliche Prägung dargestellt wird: 

Sein nationalkonservativ und antikommunistisch eingestellter Vater habe den Mauerfall von 1989 trotz aller Freude als Anfang vom „Ende des deutschen Volkes“ gesehen, weil der multikulturelle Westen nun auch die „noch intakte Vertrauensgemeinschaft im Osten zerstören“ werde. Das habe ihn stark beeindruckt. (Siehe Artikel Björn Höcke in Wikipedia, abgerufen am 13.09.2021).

Wir bewerten diese rassistische Interpretation als nicht demokratiekonform, weil die irrige Interpretation der DDR-Bürger als „intakte Vertrauensgemeinschaft“ im Vergleich zur stärker multikulturellen Gesellschaft der alten Bundesrepublik als vermeintlich „völkisch höherwertig“ eingeschätzt wird. Was für ein gefährlicher Unsinn! Gott sei Dank empfindet die Mehrheit der Bundesbürger genauso wie der FIDES-Vorstand gerade das friedliche Zusammenleben kulturell und rassisch unterschiedlich geprägter Menschen als unerhört bereichernd! Der FIDES-Vorstand ist davon aus eigenem Erleben überzeugt.
Nach unserer Überzeugung sollten sich die Demokraten allerdings stärker argumentativ mit den Vertretern völkischer Ansätze auseinandersetzen, nicht einfach ausgrenzen. Auch mit rasseorientierten Argumenten sind diese schnell als kleinkariert zu widerlegen: Stellen Sie sich doch nur eine „völkisch reindeutsche“ Fußball-Nationalmannschaft vor! Um nur eines der wichtigsten nationalen Symbole bzw. Identifikationsmittel zur Plausibilisierung zu verwenden.

Glauben Sie, dass diese Mannschaft dieselben Erfolge ohne unsere Migranten im internationalen Wettstreit gehabt hätte? Eindeutig nein; gerade die in der Bundesliga gelebte multikulturelle Gleichwertigkeit/ Integration, die sich dann in der Nationalmannschaft fortsetzt, dürfte ein Teil der Ursachen des jahrzehntelangen Erfolgs im Fußball sein! Dieser Gedanke kann auch außerhalb des Sportes im Unternehmenswettstreit über die nachweisbar höhere Leistungsfähigkeit interkulturell gemischter Belegschaften plausibilisiert werden. Das Diversity-Ziel wird von verschiedenen Managementlehrern sogar als wesentliches Ziel identifiziert, interkulturelle Kompetenzen zu erlangen und so um im weltweiten Konkurrenzkampf besser zu bestehen – bis hin zur höheren Stabilität vieler Ökosysteme im Falle großer Diversität. Ganz simpel: vergleichen Sie die Stabilität artenreicher Wiesen-Ökosysteme mit der Fragilität reinrassiger Rasenflächen… 

Vor allem aber muss nach unserer Überzeugung festgehalten werden, dass Deutschland seit Jahrzehnten nur Dank der kontinuierlichen Zuwanderung aus vielen Kulturen seine Wirtschaftskraft erhalten konnte. Daher ist Zuwanderung zu einem beachtlichen Teil in deutschem Interesse (aber nur wenn die Integration gelingt, also insbesondere ohne Ghetto-Bildung).

Gerade auch die vielen syrischen Zuwanderer waren dringend notwendig, um im letzten Jahrzehnt die negativen Geburtenraten der einheimischen Deutschen auszugleichen. Das Ganze ist natürlich nur gut, wenn sich keine Ghettobildung ergibt; wir haben an anderer Stelle die demokratiekonforme Zuwanderung ausführlich behandelt bzw. FIDES arbeitet noch an einem entsprechenden Projekt, wie idealtypisch eine demokratiekonforme Integration ohne Ghettobildung gelingen kann (ein Faktor ist auch ein multireligiöser Dialog, der auch bisherige Tabuthemen wie Gewalt ehrlich behandelt).

FIDES empfiehlt insgesamt eine stärker argumentative Auseinandersetzung mit völkischen Ideen, die unter dem Strich nichts anderes sind, als eine zwar etwas verständliche, aber irrige Angst vor Überfremdung, die nicht nur den Menschenrechten gemäß Grundgesetz, sondern insbesondere auch den gerade in Deutschland über Jahrhunderte gewachsenen christlichen Idealen der Menschen- und Bürgerrechte widersprechen (worauf Deutsche wirklich Grund haben, stolz zu sein) – abgesehen davon, dass die Not in vielen Bürgerkriegsländern so unerträglich ist, dass Hilfen ethisch notwendig sind (im Idealfall in ihren Heimatländern). 

Dies bedeutet: wenn eindeutig völkische Ideologien über unsere demokratische Rechtsordnung gestellt werden, ist dies nicht nur mit dem Grundgesetz unvereinbar, sondern gefährdet sogar unseren Wohlstand. In jedem Fall ist damit auch die Überwachung von Höcke durch den Verfassungsschutz begründet.