BWL

BWL als problemlösungsorientierte Wissenschaft

Der betriebswirtschaftlichen Identitätssuche diente auch im Jahre 2007 die Tagung
der Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaft „Zukunftsperspektiven
der Betriebswirtschaftslehre“; die folgende Abbildung gibt eine Übersicht über
die Beiträge der genannten Tagung.317
316 Vgl. Mintzberg (2010) S. 128 und 300, der insoweit von erfolglich gemanagten Familien spricht;
Sprenger (2012), S. 180 und 234; Marettek (2013), S. 140.
317 Vgl. Marettek (2013,) S. 157 ff.
318 Vgl. Schreyögg (2007), S. 2–3.
319 Vgl. Schreyögg (2007), S. 3.
320 Vgl. Schreyögg (2007), S. 6.
Tab. 9 Tagungsbeiträge Schmalenbach „Zukunftsperspektiven der Betriebswirtschaftslehre“
Autoren Titel Ergänzende Hinweise
Georg
Schreyögg
Entwicklung der Betriebswirtschaftslehre: zwischen
Integration und Zerfall
Schreyögg ist Professor für Betriebswirtschaftslehre,
Institut für Management, Lehrstuhl für
Organisation und Führung, Freie Universität Berlin.
Kurt W. Bock Anforderungen der Praxis an die
Betriebswirtschaftslehre
Bock ist seit 2011 Vorsitzender des Vorstands der
BASF AG, Ludwigshafen.
Erich Frese Eugen Schmalenbach und die Praxisorientierung
der Betriebswirtschaftslehre
Frese ist emeritierter Professor für Betriebswirtschaftslehre,
Seminar für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre,
Unternehmensentwicklung und
Organisation.
Clemens Börsig „Theorie und Praxis stets Hand in Hand“ – 75 Jahre
Schmalenbach-Gesellschaft für Betriebswirtschaftslehre
e. V.
Börsig war bis Ende Mai 2012 Aufsichtsratsvorsitzender
der Deutsche Bank AG.
Wegen ihrer charakteristischen Ausrichtung werden die ersten beiden Vorträge
der Veranstaltung inhaltlich knapp zusammengefasst; die Veranstaltung kann
meines Erachtens als Art wissenschaftlicher Selbstbehauptung des Sonderwegs der
deutschsprachigen BWL gewertet werden.
Der Hauptvortrag von Georg Schreyögg stellt zu Beginn die Identitätssuche
der größten wissenschaftlichen Fachdisziplin dar:318 Auf der einen Seite stehen
Fachvertreter, die dezidiert auf einer konzeptionell geschlossenen Disziplin
beharren; hierzu fordere eine Gruppe eine Reökonomisierung der BWL, wobei
das vieldeutige Wort „ökonomisch“ in diesem Fall als „mikroökonomisch“ zu
verstehen sei. Dem werden die Fragmentierungs- und Spezialisierungstendenzen
der angelsächsischen Wissenschaftslandschaft gegenübergestellt, die entsprechende
Auswirkung auf die deutsche BWL hätten.319 Symptomatisch für diese Tendenz sei
der disparate Zustand der Veranstaltungen zur allgemeinen BWL, wie man ihn
heute an vielen Fachbereichen finde, nämlich als mehr oder weniger unverbundene
Ansammlung von Stücken aus Teildisziplinen.320 Schreyögg betrachtet schließlich
132 Steuerungsprobleme großer Universitäten in Zeiten der Exzellenzinitiative
Wissenschaftsbezogener Anhang
verschiedene methodische Überlegungen zur Disziplin der BWL:321 Dabei verneint
er die weitverbreitete Auffassung, dass die BWL eine angewandte Wissenschaft sei.
Vielmehr sollte man von einer praktischen Wissenschaft sprechen, deren
Ausgangspunkt
konkrete praktische Steuerungsprobleme seien.322 Der aufmerksame
Leser wird sich nicht wundern, dass gerade Schreyögg die BWL als sozialwissenschaftliche
Problemlösungswissenschaft
im Sinne der a-disziplinären
Managementwissenschaft
beschreibt und gemäß dem „philosophischen
Pragmatismus“ wissenschaftstheoretisch begründet.323
Kurt Bock betrachtet im zweiten Referat die Bedeutung der BWL aus Sicht des
großen Chemiekonzerns BASF. Bock stellt der deutschen betriebswirtschaftlichen
Hochschulausbildung ein insgesamt gutes Zeugnis aus, weil die Absolventen
eine überdurchschnittlich breite Ausbildung erhalten – während die weiter
gehende US-amerikanische Spezialisierung von Forschung und Lehre „zu Lasten
des Ideals eines vollumfänglich auf die Praxis vorbereiteten Absolventen“ gehe,
wie ihn Schmalenbach vor Augen hatte.324 Neben kritischen Anmerkungen zur
Praxisrelevanz einiger mathematischer Modelle enthält der Artikel noch ein
Plädoyer dafür, dass die Hoffnungsträger des deutschen Topmanagements künftig
zur Weiterbildung nicht nur zu INSEAD (Fontainebleau), IMD (Lausanne) oder in
die USA geschickt werden, sondern auch zu den noch jungen deutschen Business
Schools.
Schließlich betont sogar der Praktiker Bock meines Erachtens zutreffend das
eigentliche Grundsatzproblem der deutschsprachigen BWL, dass zunehmend
fast nur noch die englischsprachigen Veröffentlichungen in amerikanischen
Journals als Nachweis wissenschaftlicher Expertise zählen, welche offenkundig
hauptsächlich für andere Wissenschaftler und zu wenig für Praktiker geschrieben
würden325 (ohne die grundsätzlich wünschenswerte Internationalisierung infrage
stellen zu wollen).
Diese Problematik hat offensichtlich die deutschsprachige BWL in den folgenden
Jahren so stark beschäftigt, dass sie sich auch in der Tagespresse wiederholt
niederschlug.326 Alexander Dilger, Universitätsprofessor in Münster, hat meines
Erachtens überzeugend am Beispiel der deutschen Hochschulforschung gezeigt,
dass eine alleinige Orientierung an den Anforderungen der amerikanischen
Journals bedeuten würde, dass die spezifisch deutschen und europäischen
Probleme der Hochschulsysteme (trotz ihrer gesellschaftlichen Relevanz) kaum
wissenschaftlich erforscht werden.327
Nach der hier vertretenen Auffassung zeichnet sich in den Folgejahren (seit
2007) zwar ab, dass die meines Erachtens überzeugende Forschungskonzeption
Schreyöggs unter den deutschsprachigen Fachkollegen eine gewisse Bindungskraft
erreicht hat – ohne dass dabei die Gegenstimmen übersehen werden sollten:
Beispielsweise
Dieter Schneider, ein profilierter Vertreter der wirtschaftstheoretisch
fundierten BWL, überschreibt seinen aktuellen Artikel „Schwerer
Weg der Erkenntnis“ und führt dann unter anderem aus: „Betriebswirtschaftliche
Erkenntnisse sammelten schon die Römer. Nicht alles, was danach kam, war
Erkenntnisfortschritt.“
328
321 Vgl. Schreyögg (2007), S. 12.
322 Vgl. Schreyögg (2007), S. 14.
323 Vgl. Schreyögg (2007), S. 17 und 21; Peirce (1991); Dewey (1991); Störing (1992) sowie oben.
324 Vgl. Bock (2007), S. 27, 33 und 38.
325 Vgl. Bock (2007), S. 35.
326 Vgl. Osterloh/Frey (2012); Giersberg (2012); Sureth/Wagenhofer (2011); Sureth (2012).
327 Vgl. Dilger (2012), S. 63.
328 Schneider (2011), S. U12.
Steuerungsprobleme großer Universitäten in Zeiten der Exzellenzinitiative 133
Wissenschaftsbezogener Anhang
Trotzdem kann die systematische Fundierung der BWL als praktische Problemlösungswissenschaft
wohl mittlerweile als herrschende Meinung angesehen
werden; die dahinterstehende Grundhaltung des philosophischen Pragmatismus hat
meines Erachtens sogar eine gewisse gemeinsame Bindungswirkung für alle Sozialwissenschaften
(also auch für Psychologie, Erziehungswissenschaften und Politikwissenschaften/
Soziologie), wie oben am Beispiel der Lehr-Lern-Forschung gezeigt
wurde.329