Warum Demokratieforschung?

Von Dr. Christian Marettek (FIDES-Leiter):

Demokratie als eine unvollendete Form des Zusammenlebens vieler Menschen

Viele Bürger sind unzufrieden, insbesondere mit dem Ausmaß der politischen Partizipation. Charakteristisch dafür sind Sprüche wie:

  • „Die da oben machen doch was sie wollen!“.

  • „Es sind viel zu viele Flüchtlinge aufgenommen worden, die bestehlen das deutsche Volk!“

  • „Egal wer gewählt wird, es ändert sich doch nichts!“

Zahlreiche Bürger bewegt die Sorge, dass ohne echte Reformen am politischen System und an der Art, wie wir unsere Demokratie leben, immer weniger Menschen hinter unserem Staat stehen (mit der daraus folgenden, gefährlichen Anfälligkeit gegen populistische Strömungen).

Die große Anzahl der Flüchtlinge, die Deutschland im Zusammenhang mit dem Syrienkrieg aufgenommen hat, hat das Lebensgefühl vieler Bürger verändert. Wenn man durch deutsche Fußgängerzonen oder Bahnhofshallen geht, ist dieser subjektive Eindruck auch verständlich, wenn man den hohen Anteil verschleierter Frauen betrachtet (objektiv ist der Anteil dieser Personengruppe an der Gesamtbevölkerung noch begrenzt).

Insgesamt dürfte die Notwendigkeit zu Reformen am demokratischen System bzw. an der erlebten Qualität des demokratischen Systems derzeit kaum bestritten werden. Andererseits hält sich weiterhin in unserer Gesellschaft eine recht hohe Zufriedenheiten mit den persönlichen Lebensumständen.

Schwierig wird es dann, wenn man versucht zu präzisieren, in welche Richtung die Reformen gehen sollten. Wie könnten die wahrgenommenen Defizite der Bürgerpartizipation durch Reformen so verbessert werden, dass die Bürgeridentifikation mit unserem Staat gefördert wird – ohne dass negative Konsequenzen drohen, z.B. politische Instabilität oder Unregierbarkeit.


Akteure der Demokratieforschung

Mit der Weiterentwicklung der Demokratie beschäftigen sich sehr unterschiedliche Personengruppen:

  • Forschung der etablierten universitären (hochschulichen) Disziplinen, insbesondere Politikwissenschaft, Verwaltungswissenschaft, Psychologie, Soziologie, in Teilen auch Öffentliches Management, Öffentliche Betriebswirtschaftslehre, Volkswirtschaftslehre, Erziehungswissenschaften, Jura, Geographie, Geschichtswissenschaften. In diesem Kreis der etablierten Fachdisziplinen dominiert zwangsläufig die Politikwissenschaft, deren Teil die Verwaltungswissenschaft ist und die häufig zusammen mit der Soziologie als eine wissenschaftliche Disziplin gilt. Ein typisches Beispiel dieser, meist ideengeschichtlich ausgerichteten Politikwissenschaften ist das Buch von Paul Nolte 2012, Was ist Demokratie? Geschichte und Gegenwart (Nolte ist Professor an der Freien Universität Berlin), der zur Entstehung der westlichen Demokratie insbesondere die Gründerzeit der US-amerikanischen Nordstaaten im Zeitraum von 1830 – 1860 heranzieht (S. 181).

  • Forschung von Akademien und Instituten, die wie WZB und BAPP gezielt zur disziplinübergreifende Forschung bzw. zur Politikberatung gegründet wurden, vgl. exemplarisch Frank Decker u.a. 2014, Demokratiereform. Die BAPP-Studie schlägt u.a. vor (unter Rückgriff auf Helmut Schmidt), die Ministerpräsidenten künftig direkt zu wählen. Hierzu gehören auch die verschiedenen Demokratie-Indices.

  • Diskussionsbeiträge von Journalisten, politischen Parteien, aber auch von bürgerschaftlich engagierten Vereinen, die sich zum Beispiel eine konkrete Umsetzung neuer demokratischer Instrumente zum Ziel gesetzt haben, z.B. Ute Scheub 2017, Demokratie – Die Unvollendete, München (für den Verein „Mehr Demokratie e.V.“), die u.a. auf Arbeiten des US-Kommunikations-/ Politikprofessors James Fishkin vom „Center of deliberate Democracy at Stanford University“ aufbaut. Mehr zu den Bürgerräten.

  • Professor Peter C. Dienel entwickelte in den 70er Jahren an der Bergischen Universität Wuppertal die sogenannten „Planungszellen“. In dieser Herangehensweise werden aus der betreffenden Region zufällige Bürgerinnen und Bürger ausgewählt und zu Treffen geladen, bei denen ihnen Expertise vermittelt wird, sie Diskussionen führen können und mit Politik- und Wirtschaftsvertretern reden. Ziel ist es, ein Gutachten zu formulieren, mit der dann weiter gearbeitet werden kann.
    Diese Planungszellen werden seit den 70er Jahren erfolgreich durchgeführt.

Einordnung der FIDES-Arbeit

Wenn man diese große Gruppe von Menschen betrachtet, dann könnte man die Auffassung vertreten, dass sich genügend kluge Köpfe mit der Weiterentwicklung unseres Gesellschaftssystems beschäftigen. Nach Überzeugung der FIDES-Gründer ist dies keinesfalls so.

Dabei sind wir dabei überzeugt, dass wissenschaftliche Forschung unverzichtbar ist, um wirksame Reformprogramme zu erarbeiten, die eine Chance besitzen, die Bürgerzufriedenheit positiv zu beeinflussen. Dazu sollte sich die Forschung möglichst konsequent an den großen gesellschaftlichen Themen orientieren, bei denen Bürger Handlungsbedarf sehen.

Nach Überzeugung der FIDES-Gründer weist die Beziehung zwischen den Spitzenpolitikern und den übrigen Bürgern durchaus Parallelen zu psychologischen „Beziehungskisten“ auf, die zu bestimmten Zeiten wenigstens teilweise von Vertrauen geprägt sind. So führt beispielsweise die Bundesregierung im Verhältnis zu den Bürgern kontinuierlich eine Art Dialog. Die FIDES-Arbeit gehört am ehesten vielleicht zur Führungs- und Konfliktforschung und der Politischen Psychologie, die aber zur Bewältigung demokratischer Herausforderungen auch nur dann hilfreich sein kann, wenn sie ökonomisch und juristisch-verwaltungswissenschaftlich hinreichend fundiert ist.

Hierzu müsste in Deutschland viel mehr geforscht werden, wie dauerhaftere Vertrauensbeziehungen aufgebaut und erhalten werden können. FIDES existiert im Grunde u.a. wegen des genannten Forschungsdefizits. Aber auch die Ausrichtung der Politologie auf Philosophien/ Denksysteme ist ein Grund für fehlende Forschung zur Frage, wie eine demokratische Erneuerung in Deutschland möglich ist.

Ein Beispiel: Welche neuen direktdemokratische Elemente benötigen wir? Diese Frage steht in engem Zusammenhang zur Frage, ob eine wirksame, am Gemeinwohl orientierte Politik gelingen kann? Könnte die Bundesregierung nicht vielleicht doch als Minderheitsregierung, die zwangsläufig mit wechselnden Mehrheiten auskommen muss, in ganz neuer Weise das parlamentarische Ringen um die beste Sach-Lösung kultivieren? Wenn man genauer hinschaut, ist die Demokratiereform in Deutschland zwar nötig, aber nicht so dringend wie in EU-Europa!

Am Beispiel der Europapolitik lässt sich recht gut erklären, wie praxisrelevante Demokratieforschung aussehen kann.

Wie ist es mit der Demokratisierung Europas?

Hier bestehen offenbar tatsächlich erhebliche Defizite, weil fast alles im Wege der Verhandlung zwischen der Regierungen der Mitgliedsstaaten entschieden wird. Außerdem führt die EU-Kommission nicht wie die Bundesregierung im Verhältnis zur Wahlbevölkerung eine Art von Dialog. Allein das EU-Parlament ist aus Sicht der Demokratieforschung offensichtlich zu wenig; da kommt repräsentative Demokratie eindeutig an ihre Grenzen! Daher haben wir für die beiden Haupt-Politikfeldern Europas EU-Agrarpolitik und Euro-Währungsunion Vorschläge zur Demokratisierung (einschließlich sorgfältig vorbereiteter Volksabstimmungen) formuliert.

Nach der hier vertretenen Auffassung ist es vorrangig notwendig, ernsthaft über maßvolle Schritte zur Demokratisierung Europas nachzudenken – und zwar ohne die (erheblichen) Risiken zu ignorieren, die vor allem bei nicht adäquat vorbereiteten Volksabstimmungen drohen. Bestes Beispiel ist das Brexit-Votum vom 23.06.2016. Ohne staatspolitische Notwendigkeit – mehr wohl aus innerparteilichen Kalkülen heraus – angezettelt von David Cameron, ein Zufalls-Beschluss und obwohl Umfragen immer wieder eine Mehrheit gegen den Brexit bringen – ist es geradezu ein Gegenbeispiel für das was EU-Europa braucht.Man lese nur die knappe Zusammenfassung auf www.wikipedia.de/ EU-Austritt des Vereinigten Königreichs.

Beim Brexit-Beschluss lohnt es sich den Wortlaut der Abstimmungsfrage anzuschauen: Übersetzt ins Deutsche lautete er: „Soll das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?“ Die Antwortmöglichkeiten waren „Mitglied der Europäischen Union bleiben“ und „Die Europäische Union verlassen“ (hierfür stimmten 52% bei einer Wahlbeteiligung von 72%) – ohne ausreichende Bezüge auf ein eindeutiges politisches Programm, unter welchen Bedingungen der Austritt erfolgen sollte.

Wenn man die jüngste Stimmungslage auf der Britischen Insel Ende 2018 zusammenfasst (also zwei Jahre nach der Volksabstimmung), dann wird der Brexit von der Bevölkerungsmehrheit offenkundig nicht als Sternstunde der Demokratie gesehen. Vielmehr sind auch zum Redaktionsschluss beachtliche Bürgerinitiativen engagiert dabei, um doch noch „auf den letzten Drücker“ über ein zweites Referendum den EU-Verbleib zu erreichen. Abgesehen davon, dass aus FIDES-Sicht der Verlust Großbritanniens wirklich schmerzt (und Europa viel von den Briten lernen kann): Hier interessiert aus Sicht der Demokratieforschung, ob das Referendum zu Problemlösungen bzw. vermehrter Bürgerzufriedenheit geführt hat (was verneint wird). Die Unsicherheit ist auf der Insel doch noch immer extrem groß: Soll Großbritannien noch einmal wählen? Etwa solange, bis es nicht mehr als 50% Wahlbeteiligung gibt? Was läuft da eigentlich falsch im Demokratieverständnis und der Demokratiepraxis?

Diese Fragen zeigen nach unserer Auffassung vor allem eines, dass die Demokratie als Staatsform durchaus ihre Grenzen hat (also nicht verabsolutiert werden sollte). Demokratisch verfasste Beschlüsse bedeuten nicht automatisch, dass das Gemeinwohl tatsächlich gefördert wird. Daher sollten die Regierenden diese Grenzen durchaus auch ehrlich mitteilen und vor allem Volksabstimmungen als Mittel nur zurückhaltend und verantwortungsbewusst einsetzen (gerade auch zum Schutz der Bürger vor der schon in der Antike bekannten Fehlentwicklung der Demokratie „Ochlokratie“). Nach der hier vertretenen Auffassung lassen sich insgesamt zwei grundsätzliche Lehren aus der Brexit-Erfahrung ziehen:

Zum einen dürften Volksabstimmungen grundsätzlich nur bei sorgfältiger Vorbereitung und eindeutigen Bezügen auf bekannte politische Programme eine zielführende Problemlösung des demokratischen Entscheidungsproblems sein (damit die Bürger hinterher nicht selbst unzufrieden sind).

Zum zweiten: auch wenn die Bezeichnung der EU als „bedeutendes Friedenswerk“ schon so oft wiederholt wurde – sind wir davon überzeugt, dass es sich bei der Europäischen Einigung so vieler Völker um etwas offenkundig Erhaltenswürdiges handelt, das nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden darf. Seit 1945 sind 73 Jahre ohne Krieg in Europa vergangen! Daher wird hier der Wert der Europäischen Einigung nicht grundsätzlich diskutiert.

Bei jedem Zerfall der EU steigt die Wahrscheinlichkeit ungelöster Konflikte in Europa, die unter Umständen auch wieder militärisch ausgetragen werden könnten (bei hochwahrscheinlichen Wohlstandsverlusten).

Bekanntlich entstand beim gemeinsamen Gedenken über 100 Jahre Ende des Ersten Weltkriegs ein verbaler Schlagabtausch zwischen Macron und Trump. Die Wochenzeitung Die Zeit berichtete am 11.11.2018:

In seiner Rede warnte Macron vor der Zerbrechlichkeit des Friedens und den Gefahren des Nationalismus. „Die alten Dämonen steigen wieder auf – bereit, ihr Werk von Chaos und Tod zu vollenden“, sagte er. „Wenn man sagt ‚unsere Interessen zuerst, was auch immer mit den anderen passiert‘, radiert man das kostbarste Ding aus, das eine Nation haben kann, das sie leben lässt, das sie groß macht und das am wichtigsten ist: ihre moralischen Werte.“ Macron rief die versammelten Staats- und Regierungschefs auf, für Frieden und eine bessere Welt zu kämpfen. Als konkrete Bedrohungen nannte er die Klimaerwärmung, Armut, Hunger und Ungleichheiten. Er bekannte sich ausdrücklich zur deutsch-französischen Freundschaft, zur Europäischen Union und den Vereinten Nationen.

Wenn man konkreter hinschaut, existieren von Macron verschiedene Vorschläge, der weitere Politikfelder in die EU integrieren möchte (u.a. eine Europäische Armee und eine Arbeitslosenversicherung fordert). Aber passt das wirklich in die politische Situation EU-Europas mit einem so großen Anteil an EU-Skeptikern als Bürger? Was ist also zu tun?

Nach der hier vertretenen Auffassung sind zahlreiche Einzelfragen aus den Macron-Vorschlägen nicht überzeugend. Europa wäre nach FIDES-Auffassung besser gedient, wenn wir mit der weiteren EU-Integration solange warten, bis wir wieder ausreichende Mehrheiten der Bürger hinter uns haben. Vor allem muss sich EU-Europa nach FIDES-Auffassung noch als reformfähig erweisen, um die sachpolitischen Hauptfehler der EU-Agrar- und Umweltpolitik sowie der Euro-Zone endlich überzeugend zu beseitigen.

Übrigens ist „Demokratiereform“ in Österreich bereits stärker ein Thema der politischen Öffentlichkeit. Außerdem gibt es in Österreich ein zentrales wissenschaftlich fundiertes und zugleich öffentlichkeitswirksam arbeitendes „Demokratiezentrum“, das sich die wissenschaftliche Unterstützung der Weiterenwicklung der bestehenden Demokratie zur Aufgabe gemacht hat.


Zum wissenschaftlichen Forschungskonzept.