Agenda-Setting 2030

Agenda- und Werteforschung (Stand 08.11.2018)

Von Dr. Christian Marettek

Überblick: Was sind die größten gesellschaftlichen Herausforderungen? 

Was sind die gesellschaftlichen Herausforderungen, die in Deutschland vorrangig gelöst werden müssen? Wie kann das Gemeinwohl nachweislich gefördert werden? Wie kann Forschung dabei wirksam helfen, Probleme zu lösen? Trotz der extrem hohen Komplexität, die unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen berührt. Diese Fragen bestimmen die vom Verein angestrebte ganzheitliche Forschung.

Dementsprechend sorgfältig sollte auf Seiten der Empirik unterschieden werden,

  • ob es sich tatsächlich um primäre empirisch feststellbare Werte und Präferenzen der wahlberechtigten Bürger handelt (wenn also offen gefragt wird).
  • ob es sich um Einschätzungen von Beobachtern (Journalisten, Wissenschaftler) handelt.
  • Dazwischen liegen die Meinungsumfragen mit vorgegebenem fachlichen Raster. Als Beispiel hierfür sei die im Juli 2018 in Bild am Sonntag veröffentlichte Emnid-Umfrage genannt, welche dann zu den bekannten Schlagzeilen führt wie hier in der Westfälischen Rundschau am 11.07.2018: „Kampf gegen Altersarmut für Bürger besonders wichtig“; insgesamt sind dabei 20 verschiedene Agenda-Themen vorgegeben worden.

Die vollständige Meldung lautet übrigens dabei: „Der Kampf gegen Altersarmut und das Herstellen gleicher Bildungschancen sind für die Bundesbürger nach einer Umfrage die wichtigsten
politischen Themen für eine Wahlentscheidung. Eine Begrenzung der Zuwanderung, über die die Politik derzeit hauptsächlich diskutiert, wird dagegen als wesentlich weniger wichtig eingestuft. Auf dem letzten Platz landete bei der Auswahl aus einer Liste von 20 Themen ein Aufstocken der Verteidigungsausgaben.
In der Emnid-Umfrage für die „Bild am Sonntag“ nannten 79 Prozent der Befragten das Verhindern von Altersarmut als besonders wichtig. 76 entschieden sich für das Schaffen gleicher Bildungschancen für alle Kinder. Die Zuwanderung zu begrenzen, fanden dagegen insgesamt nur 38 Prozent besonders wichtig – Platz 14. Allerdings stachen hier AfD-Anhänger heraus. Für sie war es das zweitwichtigste Thema (87 Prozent). Mehr Geld für Verteidigung auszugeben, war nur 16 Prozent der Befragten besonders wichtig.“

Aus wissenschaftlicher Sicht kann dazu folgendes kommentiert werden; mit den folgenden Hinweisen sollen die tiefgehenden soziologischen und politologischen Zusammenhänge zwischen Geäußerten Werten, gesellschaftlicher Realität und politischer Agenda angedeutet werden (FIDES-Kommentar Dr. Marettek):

  • Zusammenhang mit existentenziellen Bedürfnissen: Das Agenda-Thema „Kampf gegen die Altersarmut“ korrespondiert offensichtlich mit den berechtigten existentiellen Sorgen jedes Menschen, im Alter möglicherweise nicht genügend finanzielle Mittel zu haben, um den gewohnten Lebensstandard zu erhalten.  Wenn gerade das Thema im Sommer 2018 priorisiert wird – als die GroKo gerade wiederholt ein Rentenerhöhungspaket verabschiedet hat – während die Kommentatoren darauf hin wiesen, dass dies eigentlich zu Lasten der künftigen Generationen geht – dann lässt sich möglicherweise ein Zusammenhang damit herstellen, dass die Bevölkerung durchaus ein sensibles Gespür für Gerechtigkeit aufweist (alle Generationen sollten im Alter keine Not leiden).
  • Zusammenhang geäußerter existentieller Bedürfnisse mit realer politischer Lage: Wenn das Agenda-Thema „Mehr Geld für Verteidigung auszugeben“ in Deutschland auf den letzten Platz kommt, dann kann mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass bereits in Polen eine derartige Umfrage zu anderen Ergebnissen führt. Erst recht in den baltischen Ländern oder auch in Finnland, die direkt an Russland grenzen.


Charakteristische Kommentare und Studien

FIDES wertet kontinuierlich die veröffentlichte Meinung einschließlich der vorliegenden repräsentativen Bürgerbefragungen aus. Nach dem bisher Gesagten können grundsätzlich verschiedene Kategorien veröffentlichter Einschätzungen unterschiedenen werden (die wir mit charakteristischen Beispielen darstellen):

  1. Anspruchsvolle Kommentare: Von Zeit zu Zeit gelingen Wissenschaftler oder Journalisten überdurchschnittliche Beurteilungen der Stimmungslage in Deutschland. Als Beispiel der Kommentar von Marcel Fratscher vom 07.04.2017 in der FAZ: (Titel: Zufriedenheit und Ungleichheit):

„Nie seit der Wiedervereinigung waren so viele Deutsche mit ihrem persönlichen Leben so zufrieden wie heute. Gleichzeitig waren mit 70 Prozent der Deutschen selten so viele unzufrieden mit der sozialen Ungleichheit und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Ist dies nicht ein Widerspruch? … Aus drei Gründen sind eine hohe Zufriedenheit mit dem persönlichen Leben einerseits und eine tiefe Unzufriedenheit mit dem Zustand der Gesellschaft andererseits nicht nur kein Widerspruch, sondern eine recht gute Beschreibung der Lage in Deutschland heute. Zum einen beschreiben diese Umstände eine zunehmende Polarisierung der deutschen Gesellschaft. Einem signifikanten Teil der Menschen geht es heute besser als noch vor zehn Jahren. Mehr als 4 Millionen haben seit 2005 eine Arbeit gefunden, viele davon gute Arbeit, und die Einkommen sind für die Mehrheit der Beschäftigten gestiegen. Aber nicht alle haben an diesem Aufschwung teilhaben können, sie sind abgehängt worden. Die 40 Prozent der Haushalte mit den geringsten Einkommen haben heute eine geringere Kaufkraft als noch vor 20 Jahren. …

Die Polarisierung verursacht vielmehr wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schaden. Der Wirtschaft entgeht ein enormes Potential, wenn Menschen sich nicht ausreichend qualifizieren und in den Arbeitsmarkt einbringen können. Diese Polarisierung bedeutet eine ungleiche soziale und politische Teilhabe, was letztlich zu sozialen Konflikten führt und das Funktionieren der Demokratie gefährdet.

Zweitens sagen die Umfragen zur individuellen Zufriedenheit – wie jene, die vom DIW-SOEP seit 1984 durchgeführt wird – etwas über das gegenwärtige Empfinden, aber nichts über die Hoffnungen, Sorgen und Ängste für die Zukunft aus. Auch dies zeigt sich deutlich in vielen Studien: Die Menschen machen sich zunehmend Sorge über ihre Zukunft, darüber, was mit ihrer Arbeit passieren wird, ob es den eigenen Kindern gutgehen wird, ob die Rente sicher ist und ob sie ihren Lebensstandard halten können, ob Gewalt und Kriminalität zunehmen werden. Die nicht unberechtigte Wahrnehmung vieler ist: Wir leben in goldenen Jahren, die nicht ewig anhalten werden.

Der dritte und vielleicht wichtigste Grund ist, dass es vielen Menschen eben nicht nur um ihre ganz persönliche wirtschaftliche und finanzielle Lage geht, sondern dass sie in einer Gesellschaft leben wollen, die einen Ausgleich schafft und allen eine soziale Absicherung bietet …

„Das Volk versteht das meiste falsch, aber es fühlt das meiste richtig“, schrieb Kurt Tucholsky mit Ironie 1931…“

(Ende des auszugsweisen Zitats in der Frankfurter Allgemeinen vom 07.04.2017). Hintergrund: Marcel Fratzscher ist Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin.

2. Zusammengefasste interpretierende Studien:

Eng verwandt mit Ziffer 1 – aber noch stärker durch Einschätzungen verschiedener Forscher/Journalisten aufbereitet, handelt es sich bei den (vollständigen) Studien regelmäßig um umfangreiches Material, das zwar auf empirischen Analysen irgendwie basiert, das aber nach bestimmten Analysemethoden weiterverarbeitet wurde.

Meist werden derartige Studien von Verbänden oder großen Unternehmen in Auftrag gegeben, wie es beispielsweise 2012 das angesehene Mannheimer Zentrum für europäische Wirtschaftsforschung (ZEW, PD Dr. Friedrich Heinemann, Tanja Hennighausen, Christoph Schröder) im Auftrag der Stiftung Familienunternehmen als „Der Weg zu einer „Agenda 2030“, Reformen zwischen objektiver Notwendigkeit und individueller Verweigerung“ vorgelegt hat. Der genannte Text vergleicht international mehrere Länder im Hinblick auf ihre Sicht der gesellschaftlichen Herausforderungen und die offenbar bestehende Reformbereitschaft.

Besonders umfangreich ist sicherlich die im Auftrag der Bundesregierung erstellte Studie „Gut-leben-in-Deutschland“ mit 241 Seiten, vgl. Bundeskanzleramt 2016, die durch einen Abschlussbericht zu den Bürger- und Online-Dialogen zum Thema Lebensqualität von 497 Seiten und verschiedene andere Dokumente ergänzt wurde. Die Basisforschung dazu wurde vom Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Arbeitsstelle Kommunikationstheorie / Medienwirkungsforschung der Freien Universität Berlin in Zusammenarbeit mit der CID GmbH Freigericht erledigt.

Im Jahr 2016 wurde ergänzend eine Studie über die glücklichsten Varianten des Kapitalismus durchgeführt, die erstmals auch Deutschland zu den Ländern mit den glücklichsten Bürgern zählt.


Annäherung an die gesellschaftlichen Herausforderungen Ende 2018/Anfang 2019

Grundsätzlich sammelt FIDES alle für eine Fragestellung verfügbaren Stellungnahmen und Studien – ohne selbst eigene derartige Studien durchzuführen. FIDES verwendet vielmehr sämtliche vorliegenden Texte als Ausgangspunkt für eine politikfeldorientierte Forschung über mögliche Lösungsstrategien (bezogen auf Herausforderungen, die in der veröffentlichten Meinung gesehen werden).

Dabei geht es FIDES nicht nur um fachlich mögliche/zweckmäßige Lösungsstrategien (z.B. aus volkswirtschaftlicher Sicht), sondern um solche, die einschließlich der zugehörigen Kommunikationsstrategie erfolgversprechend sind, um das Vertrauen der Bürger in die politische Führung mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erhalten bzw. zu fördern. Damit soll erreicht werden, dass tatsächlich nicht die Gesetzmäßigkeiten der wissenschaftlichen Disziplinen wie VWL, sondern tatsächlich die gesellschaftlichen Herausforderungen aus Sicht der Mehrheit der Bürger zum Forschungsgegenstand werden.

Dieses „hehre“ Ideal setzt voraus, dass eine Einschätzung besteht, was denn die wichtigsten gesellschaftlichen Probleme sind. Die Frage, welche Probleme zu den wichtigsten gesellschaftlichen Herausforderungen zählen, kann zwar Gegenstand von Meinungsumfragen sein – ein anderer Anhaltspunkt kann die veröffentlichte Meinung bieten. Natürlich bleibt ein beachtlicher Teil subjektive Wertung.

Politikfelder Wichtige Ziele und Maßnahmen mit mehrheitlichem Konsens in Bevölkerung Fides-Projekt
Flüchtlinge Schnellstmögliche Integration der bereits anwesenden Migranten, Ausweisung von Straftätern usw.
Umwelt Umsetzung der Energiewende bei Stabilität des Stromnetzes und ohne Preisexplosion, wirksame Maßnahmen gegen Klimawandel durch CO2, gegen Artensterben (für Biodiversität), umwelterhaltende Landwirtschaft, Überwindung der Massentierhaltung  X
Infrastruktur Bessere Förderung des Bahnverkehrs (Güterbahn, Pünktlichkeit Fernverkehr), Bessere Instandhaltung der Bundesfernstraßen  (X)
Finanzen Vereinfachung des Steuerrechts; Bewältigung der Währungskrise
Wirtschaft wirksame Wirtschaftsförderung zur Schaffung neuer Arbeitsplätze, nach Möglichkeit in technologieorientierten Branchen; Sicherung des Fachkräftebedarfs, Stärkung der Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Unternehmen, wirksame Innovationsförderung
Wissenschaft Stärkung des Forschungsstandorts Deutschland, Verbesserung der Qualität der Lehre, Verminderung der Abbrecherquoten, bessere Verwaltung der Hochschulen  X, X
Bildung praxisorientierte Verbesserung der Lehrerbildung; Schulabschluss und Berufsausbildung für alle
Jugend, Familie, Soziales wirksame Integrationshilfen für junge Erwachsene

möglichst viele Familien sollten durch qualitativ hochwertige Jugendhilfe in die Lage versetzt werden, die Kinder selbst zu erziehen

hochwertige Heimerziehung, Familienförderung; Sicherung der Renten und Pensionen, Verhinderung von Altersarmut trotz demographischer Effekte,

wirksame Grundsicherung und Arbeitsförderung, möglichst unbürokratisch

Gesundheit Prävention gegen psychische Erkrankungen wie Burn Out, Depression usw., u.a. durch mehr beziehungsorientierte Führungsarbeit in der gesamten Wirtschaft  X
Innen/ Europa Stärkung von Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Verwaltungen, um Bürgerzufriedenheit zu erhöhen, Verbesserung der Bürgerpartizipation und -identifikation. Überwindung der als undemokratisch und bürokratisch empfundenen Konstruktionsfehler der Europäischen Union.  (X)

Wie wenig sich im Vergleich zu 2012 (sechs Jahre vorher) geändert hat, ist doch überraschend! Vgl. dazu Marettek 2013, Wirksames Management für öffentliche Einrichtungen S. 130-132

Annäherung an die gesellschaftlichen Herausforderungen Ende 2012/Anfang 2013


Vorläufiges Fazit aus Sicht von FIDES (Herbst 2018)

Das Hauptthema des Jahres 2018/2019 war auch das Hauptthema des von FIDES zuvor analysierten Jahres 2016/2017: die Migrationspolitik. Hier fehlt offensichtlich aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht immer noch ein modernes Einwanderungsrecht, das auch die Interessen Deutschlands angemessen berücksichtigt. Der damalige Satz von Helmut Kohl „Deutschland ist kein Einwanderungsland“ war aus unserer Sicht schon damals falsch und irreführend. Das Einwanderungsrecht muss steuern, dass solche Migranten bevorzugt einwandern dürfen, die auf dem deutschen Arbeitsmarkt gebraucht werden, überdurchschnittliche Integrationsbereitschaft (Sprachkenntnisse) zeigen usw. Das Einwanderungsrecht muss  im Hinblick auf das Sicherheitsgefühl der Bürger durch geeignete Maßnahmen ergänzt werden (z.B. Abschiebungen von Straftätern). Aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht ist das Aufkommen der AfD durch ein Zusammenwirken verschiedener Faktoren begründet, zu denen auch sachpolitische Defizite wie der Eindruck ungesteuerter Zuwanderung 2016/2017 und das seit Jahren bekannte Fehlen eines modernen Einwanderungsrechts gehört.

Das Hauptthema der veröffentlichten Meinung des Jahres 2012/2013 war interessanterweise die Euro- bzw. Schulden-Krise (Griechenland), während drei Jahre später kaum jemand hierüber noch redete. Ende 2018 eskaliert jedoch jetzt offensichtlich der Streit mit Italien – und sowohl die bundesdeutsche als auch die EU-Führung haben immer noch keine überzeugenden Problemlösungsansätze (wie wir an anderer Stelle zeigen).

Diese fehlende Bearbeitung offenkundiger sachpolitischer Defizite wie der Euro-Krise ist zwar menschlich im tagespolitisch orientierten Politik-Stress verständlich – aber dennoch nach FIDES-Auffassung ein typischer Fehler von etablierten Führungskräften: Wenn man die Erkenntnisse der Management-/Führungsforschung auf die politische Führung Deutschlands überträgt, dann handelt es sich um typische Defizite in der Ausrichtung auf notwendige Innovationen. Die mit den Jahren ihrer Amtszeit älter gewordenen Führungskräfte bringen zwar in der Regel eine beachtliche Weisheit mit, übersehen aber Handlungsfelder, wo echte Innovationen notwendig sind! Derartige Führungskräfte – hier insbesondere der „Alt-Parteien“ CDU und SPD – denken, dass alles Notwendige schon diskutiert wurde oder/und sind einfach so stark in der Ausrichtung auf den tagespolitischen Wettstreit ausgerichtet, dass scheinbar keine Zeit zur Beschäftigung mit den schwierigen Zukunftsthemen Deutschlands und Europas bleibt. Es handelt sich nach Auffassung um ein systemischen Phänomen, dass in der Psychologie an zahlreichen Stellen auftritt – dessen Folge aber Vertrauensverluste der etablierten politischen Parteien vor allem CDU und SPD sind. Wir zeigen unten wie die „Alt-Parteien“ empirisch nachweisbar immer mehr dazu neigen, die parteipolitischen Erfolgschancen zwar weiter professionell zu bearbeiten, ohne dass aber noch eine ausreichende Betrachtung gesellschaftlich wichtiger Sachthemen erfolgt (weder innerparteilich noch in den geführten Ministerien!). Wenn man die Politik von CDU und SPD beobachtet – wirklich den Alltag der Politiker beobachtet, was sie durchaus fleißig tun – dann wird dort zwar hart am politischen Wettstreit gearbeitet – aber scheinbar bleibt einfach keine Zeit für ausreichendes Nachdenken über die wirklichen Herausforderungen des Landes, was aber für solide Sachpolitik unerlässlich ist. Das psychologische Phänomen der (destruktiven) Konzentration auf die tagespolitische Parteipolitik bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Sachpolitik sollte nach FIDES-Auffassung durch eine Kombination folgender Iniatativen angegangen werden:

  • systematische Änderung der Kommunikationsstrategien in den Partei- und Regierungszentralen im Hinblick auf eine stärker langfristig und vertrauensbildend ausgerichtete Kommunikation mit dem Bürger

  • maßvolle Demokratiereform mit Begrenzung der Anzahl der Wahlen in Deutschland und Stärkung von Persönlichkeitswahlen (Begrenzung der parteipolitischen Einflüsse, gezielter Einsatz direktdemokratischer Bausteine ohne vollständige Veränderung der Rechtsordnung des Grundgesetzes)

  • Lösung der EU-Probleme durch systematische Einführung direktdemokratischer Bausteine für EU-Agrarpolitik und Euro-Zone.

Weitere Beispiele für die sachpolitischen Defizite, die nur in Ansätzen von den Bürger wahrgenommen werden

Der Bürger merkt übrigens von den weitverbreiteten sachpolitischen Defizite (die wir als Vertreter der Managementforschung bzw. Verwaltungswissenschaften beklagen) nur indirekt etwas: wenn es z.B. trotz unzähliger „Diesel-Gipfel“ immer noch keine Lösung dafür gibt, dass die Euro4-Diesel (nachdem unzulässig manipuliert wurde) nicht mehr in die Innenstädte fahren dürfen (was für viele Bürger, vor allem Pendler, eine persönliche Katastrophe ist). Dieser Themenkreis führt zu einem weiteren Defizit, dass Politik und Autoindustrie möglicherweise nicht rechtzeitig auf die zukunftsfähigen Technologien gesetzt haben. Dabei ist auch zu beachten, dass die Umweltbilanz des batteriegetriebenen E-Autos schlechter als Erdgas-Autos oder Brennstoffzellen-Autos ist, so dass der politisch interessierte Bürger auch an der auf EU-Ebene jetzt vorgegebenen Priorisierung von E-Autos zweifelt…

Noch ein anderes Beispiel, wo der Verfasser im letzten Jahrzehnt ein größeres Forschungsprojekt (im Rahmen seiner damaligen Tätigkeit für PwC) geleitet hat: Stärkung des Forschungsstandorts Deutschland. warum gibt es trotz beachtlicher Förderung des Bundes und der Länder (zuletzt „Exzellenzstrategie“) immer weniger Nobelpreisträger? Warum ist die Auswanderungswelle führender Forscher nach USA und Großbritannien immer noch ungebrochen? Die Antworten – die u.a. eine ineffiziente Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern betreffen (auch hier zeigt sich die Notwendigkeit einer echten Föderalismusreform) – finden Sie unter.

Leider noch kein gesellschaftlicher Konsens (deswegen nicht in obiger Tabelle) – aber doch ein sachpolitisches Defizit (sogar ein sehr unbequemes) existiert beim Thema Bundeswehr bzw. Verteidigungspolitik. Hintergrund: wegen des erneut aufflackernden Ost-West-Gegensatzes seit der „orangenen Revolution“ in der Ukraine ist das bestehende extreme Ungleichgewicht bei den Landstreitkräften in Mitteleuropa zugunsten Russlands erneut von politischer Relevanz (wie bereits oben angedeutet, ist es uneingeschränkt verständlich, dass die baltischen:Staaten und Polen sich von der „dramatischen Unterzahl“ an der NATO-Ostflanke (so die FAZ vom 08.02.2018, vgl. ausführlich) bedroht fühlen. Nach FIDES-Überzeugung hatte die NATO/EU  seit der orangenen Revolution im Verhältnis zu Russland durchaus Fehler gemacht – und weder die persönliche Relevanz für Putin noch den russischen Nationalismus adäquat aufgefangen. Aber hier geht es nur um sachpolitische Defizite Deutschlands: die Bundeswehr ist vor allem bei den Landstreitkräften durch jahrelange Sparmaßnahmen und Verwaltungsfehler kaum noch einsetzbar.

Die empirisch beobachteten sachpolitischen Defizite betreffen im Vergleich zu den Prioritäten der aktuellen GroKo nach unserer Auffassung vor allem folgende Politikfelder:

  • Finanzen/Europa: Bewältigung der Währungskrise sowie Überwindung der als undemokratisch und bürokratisch empfundenen Konstruktionsfehler der Europäischen Union
  • Umwelt/Agrar: Überwindung der Massentierhaltung (das Thema wird immer noch fast ausschließlich in der Partei Bündnis 90/Die Grünen bzw. den Umweltverbänden Nabu und BUND diskutiert) sowie wirksame Maßnahmen gegen Artensterben (für Biodiversität)
  • Wissenschaft: (endlich) wirksame Stärkung des Forschungsstandorts Deutschland (auch Teil der notwendigen Föderalismusreform)
  • Demokratie-/ Föderalismusreform: Stärkung von Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Verwaltungen, Vereinfachung des Steuerrechts
  • Verteidigungsfähigkeit im Rahmen der eingegangenen Bündnisse von EU und NATO.

Aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht ist die Rechtsordnung des Grundgesetzes zwar nicht schlecht, aber einfach „in die Jahre gekommen“ – ohne dass die eigentlich notwendigen Reformen angegangen wurden (und das obwohl die erste GroKo unter die Merkel sogar die Mehrheit gehabt hätte, endlich so leidige Themen wie die Vereinfachung des Steuerrechts zu erledigen). Das FIDES-Fazit identifiziert die ungelösten Hauptprobleme Deutschlands damit zu beachtlichen Teilen im EU-Bereich  längerfristig wichtigen Probleme zu wenig durch fundierte Sachpolitik aufzuarbeiten.

Selbst als der junge französische Präsident mit großem Charme 2017 wegen der ausstehenden EU-Reformen auf die deutsche Regierung zuging, hatte diese bedauerlicherweise nichts anderes zu tun, als den Wahlkampf vorzubereiten und hinterher zahlreiche Monate für die Regierungsbildung aufzuwenden. Dabei hat der Bürger immer wieder spüren können: es geht in der Koalitionsverhandlungen hauptsächlich um parteipolitische Kalküle

  • welche Partei setzt welche Akzente ihres Wahlprogrammes um (Gefahr der Klientelpolitik)
  • kann die jeweilige Partei die Koalition so nutzen, dass die zukünftigen Wahlchancen gesichert scheinen bzw. steigern (Partei-Kalküle dominieren Sachpolitik).

Das letzte Kalkül war monatelang Gegenstand der bundespolitischen Debatte, ob die SPD tatsächlich einer weiteren Koalition mit Merkels CDU zustimmen sollte (weil sie bislang von der mitte-links stehenden Merkel „erdrückt“ würde). Nachdem die Regierungsbildung geschafft war, hatte die CDU bei fast allen SPD-Themen nachgegeben. Trotz aller Parteikalkülle erreichten beide Parteien noch im Sommer 2018 Allzeit-Tiefs in der Sonntagsfrage – nicht nur weil der Bürger intuitiv Parteikalküle ablehnt bzw. bestraft, sondern weil darüber hinaus erscheckende Führungsfehler (handwerkliche Fehler in der politischen Führung) von allen drei regierenden Parteien CDU, CSU und SPD gemacht wurden, die den Vertrauensentzug der Bürger nachvollziehbar zur Folge hatte, vgl. ausführlich zur Detailanalyse und den Gründen.

Zum Kommentar des FIDES-Vorstands